Ich sitze also im Bus nach Salta. Um 18 Uhr gehts los, viereinhalb Stunden später ist man schon da. Auf der Fahrt besticht wieder die argentinische Logik: Zuerst, so um 18.30 Uhr, wird der Film Prince of Persia gezeigt. Jaaa, Verschwörungen, Dolche, krachbummbäng. Dann, als die Kleinen endlich eingeschlafen sind, gegen 21 Uhr, kommt endlich das Erwachsenenprogramm: Yogibär – Der Film.
Kurz vor Ankunft halten wir plötzlich an. Sodele, alle die nach Salta-Stadt wollen müssen jetzt umsteigen. Typisch, man hat uns vorher nicht informiert. Es wollen aber nur fünf Leute nach Salta-Stadt, und so machen wir es uns in der Ersten Klasse in den bequemsten Sitzen der Welt gemütlich.
Im Hostel werde ich dann erstmal von dem Mädel, das die Nachtschicht hat, ihrem schwulen besten Freund und einer Gästin zum Matetrinken eingeladen. Eigentlich wollte ich früh ins Bett, aber es wird schon wieder drei Uhr morgens.
Trotzdem stehe ich freitags früh auf und starte mein Hardcorekulturprogramm. Zuerst mal ins Pajcha, einem privaten Museum einer leidenschaftlichen Anthropologin, das viele Ausstellungsstücke aus der kulturellen Vergangenheit und Gegenwart der indigenen Bevölkerung beherbergt. Da ich die einzige Besucherin bin, bekomme ich eine Privatführung von Diego, dem jahrelangen Begleiter der Kuratorin. Ein knuffiger Typ, der mich mit Salven von Suggestivfragen und Wissenstests befeuert. Das war der erste und beste Museumsindividualbesuch, den ich je gemacht habe. Das Museum wäre aber auch mit weiteren Besuchern sehr sehenswert gewesen. Wusstet ihr übrigens, dass es nur in Südamerika Kirchen mit Engelsdarstellungen gibt, in denen die Engel Schusswaffen tragen? Da wäre jeder gringo neidisch.
Danach gehts weiter zum teleférico, der Seilbahn, auf den Cerro de San Bernardo, der sich über Salta erhebt. Auch hier beschert mir mein Anti-Siesta-Rhythmus wieder Erfolg, denn ich habe eine ganze Gondel für mich alleine, und oben auf dem Berg ist auch nicht viel los.
Wieder am Boden belohne ich mich zuerst mit einem Bummel über den Kramsmarkt, wo ich mir zu einem Spottpreis die – dank der schwindenden Temperaturen – lange fälligen (und dabei auch noch sehr schönen) Hausschuhe kaufe. Danach, weil ich ja schonmal in Shoppinglaune bin, fahre ich mit dem öffentlichen Bus zum Mercado Artesanal. Dort treffe ich allerdings die Horden argentinischer Touristen und lasst euch gesagt sein, auch hier gibt es Kaffeefahrten, auf denen Ömchen in Massenabfertigungstechnik verköstigt und zum Kauf animiert werden.
Zurück in der Innenstadt serviert mir das Glück mal wieder eine Rarität. Ich schaue mir gerade die rosafarbene Kathedrale an, da läuten zwei Glöckner die Festglocken, um die Gläubigen zur Messe zu rufen. Es ist nämlich Freitag der 13. und vor soundsovielen hundert Jahren hat die hauseigene vírgen irgendein Wunder vollbracht, und deshalb gibt es eine besonders festliche Messe (mein erster katholischer Gottesdienst, nachdem sich der damals in London besuchte, den ich zunächst irrtümlich für katholisch hielt, als anglikanischer Gottesdienst herausgestellt hatte). Ich gehe aber schon nach einer Stunde dank der unbequemen Bänke, meines Dauerbekreuzigungsunmutes, und weil ich noch in den Supermarkt will.
Auch nachts werde ich von drei Mendozanern mittleren Alters im Hostel eingeladen, auf ein paar Bier und politische Gespräche. Ich kann mein Erstaunen über die Gastfreundschaft der Menschen immer noch nicht in Worte fassen.
Am nächsten Tag – es ist mittlerweile Samstag – mache ich mich mit dem Bus auf in die Quebrada de San Lorenzo, ein Naturschutzgebiet. Der Busfahrer nimmt mir gleich mal alle Hoffnungen auf vorgegebene Wanderwege als er sagt, dass man „halt einfach so ein bisschen rumlaufen kann”. Es gibt dann aber doch eine privat verwaltete Wanderroute, die für meine Verhältnisse auch optimal ist: drei Stunden wandern, bergauf bergab, aber nicht zu anstrengend, man schwitzt nur ein kleines bisschen.
Einen extra Abzweig, sozusagen der Wurmfortsatz des eigentlichen Wanderweges, der einen Berg hoch zu einem Aussichtspunkt führt und 45 Minuten dauern soll, gebe ich mir natürlich auch noch. Kurz vor Ankunft auf der Aussichtsplattform sehe ich im Gebüsch ein kleines Schwänzchen wedeln. Wie süß, ich liebe Ponies. Als ich aber näherkomme, sehe ich, dass das Schwänzchen zu einem Kälbchen gehört und vorne noch die Mutter mit dranhängt, deren spitze Hörner im Sonnenlicht glitzern und die mich indistinguiert anblickt.
Versteht mich nicht falsch, ich habe keine Angst vor Kühen. Aber ihre Hörner waren wirklich sehr spitz, und dann muss man bedenken, dass Muttertiere ja sehr aggressiv werden können, und außerdem, wo ist denn bitte der Vater, der kann ja auch nicht weit sein (obwohl mir jetzt gerade einfällt, dass er wohl schon längst im Magen eines Argentiniers gelandet sein könnte). Ich drehe also, kurz vor dem Ziel, um. Die Aussicht ist auch hier schon sehr gut.
Abends dann nochmal ins Kino, zwei Filme für zusammen € 5 angeschaut (Revolución und Thor) und dann ins Bett…
…damit ich sonntags den Höhepunkt eines jeden Saltaaufenthaltes erleben kann: das MAAM, das Museo de Arqueología de Alta Montaña. Hier werden die drei Kindermumien ausgestellt, die vor etwa zehn Jahren auf einem knapp 6000 m hohen Vulkan in der Nähe gefunden wurden. Die Kinder waren Teil eines Inkarituals vor 500 Jahren, für das die beiden jüngeren etwa 6‑jährigen Kinder zusammen mit anderen Kindern aus adligen Inkafamilien den beschwerlichen Weg zur Hauptstadt der Inkas in Peru machen mussten und dort verheiratet wurden. Nach ihrer Rückkehr im Dorf bekamen sie Schnaps zu trinken, der sie ins Koma versetzte, woraufhin sie auf dem Berg, in kleinen Gräbern zusammen mit Opfergaben und einer jungfräulichen 15-jährigen Babysitterin, geopfert wurden. Dieses Opfer bedeutete höchste Ehre für die Auserwählten, weshalb die eigentliche Grausamkeit hermeneutisch betrachtet werden sollte. Das Besondere an den Mumien ist, dass sie durch die strengen klimatischen Bedingungen sehr gut erhalten sind, und man Haare, Kleidung und Gesichtsausdruck in vollem Detail bewundern kann. Wer sich traut, kann hier ein Foto der drei momias anschauen.
Bevor ich am Sonntag wieder zurück nach Tucumán fahre, schaue ich nochmal im Museo de Arte Contemporáneo rein und stelle fest, dass Kunst nicht so meins ist. Ich versuche es trotzdem immer wieder, doch die Welt scheint etwas dagegen zu haben: Ich sitze gerade andächtig vor der Wandprojektion eines künstlerisch wertvollen Bildes und versuche, die Message des Künstlers in mich aufzunehmen. Links und rechts auf zwei Fernsehern ähnliche Bilder, also ein modernes Triptychon, wie ich mir stolz zusammenreime. Das moderne Triptychon ist aber nicht von Dauer, denn der Museumswärter kommt herein, schaltet auf Fußball um und verwandelt es so in ein Diptychon. Zwei Clubs aus Buenos Aires spielen gegeneinander, ein Klassiker. Es steht 2:0.